Göttinger Liedpredigten

Unter diesem Titel hat Prof. Dr. Dr. Johannes Schilling, ein ausgewiesener Kenner der Reformationsgeschichte, zusammen mit Brinja Bauer eine Geschichte des Evangelischen Gesangbuchs von den ersten Liederdrucken der Reformationszeit bis zu den Liederbüchern der 2000-er Jahre veröffentlicht (ISBN 978-3-374-0715-0).
Unter diesem Titel steht auch ein Vortrag, den Schilling am Donnerstag, 7. März 2024, um 19 Uhr in der St. Johanniskirche halten wird.

 Der "Verband Evangelische Kirchenmusik in Württemberg" hat nicht nur eine anregende Seite zum Jubiläum für seine Website erarbeitet (s. obersten LINK), sondern im Strube-Verlag auch einen Jahreskalender 2024 veröffentlicht. Von Woche zu Woche werden zwei (Wochen-)Lieder vorgestellt in Kurztexten verschiedener Autoren, mal mehr informativ, mal meditativ. Natürlich finde ich nicht alle Beiträge inspirierend, aber sie regen an, über meinen Tellerrand zu schauen. Besonders gefallen hat mir der aktuelle Text zum Zweiten Sonntag nach Epiphanias von Dr. Martin Evang mit einem schönen Zugang zu altmodische Texten wie „Wie schön leuchtet der Morgenstern:

„Das Gesangbuch schlage ich nicht auf, wie ich einen modernen Möbelmarkt betrete. Eher wie einen Antiquitätenladen. Nichts gegen schwedische Möbelhäuser! - Auf die Zweckmäßigkeit und Modernität ihrer Produkte möchte ich nicht verzichten. Aber bei einem Antiquitätenladen ist die Einstellung anders: etwas Zeit, eher absichtslos schlendernd, auf Überraschungen gefasst. Wer sich im Antiquitätenladen umtut wie Goethe im Walde - ‚… und nichts zu suchen war mein Sinn…‘ - dem kann auch hier plötzlich etwas bezauberndes ins Auge springen: ‚Da sah ich …‘ - ‚Wie schön leuchtet der Morgenstern‘ ist so eine Antiquität, eine poetisch-musikalische Preziose von unwiderstehlichem Reiz. (…) Jesus-Minne – verstörend vielleicht, aber mit Wurzeln, die auch in dürrer Zeit bis in die Tiefe, bis zu den Quellen des Lebens reichen.“

Dieses Epiphaniaslied ist eine Kostbarkeit, ausgezeichnet durch ein Alleinstellungsmerkmal. In den drei lutherischen Liedersammlungen von 1524 ist es das einzige von einer Frau geschriebene. Sprachlich und melodisch wie alle Choräle der Reformationszeit ein wenig altertümlich, aber wenn man sich darauf einlässt, von archaischer Schönheit: weitgehend reimlos (zumindest in heutiger Orthographie) , mit schönen Metaphern (z.B. "den Tod zerbrochen") und originellen Wortbildungen (Gottesanrede "Du väterliche Kraft"). Falls dieser Choral ins nächste Gesangbuch aufgenommen wird, mögen die Redaktoren es wagen, in der letzten Strophe das heute missverständliche Wörtlein "kränke" durch "schwäche" o.ä. zu ersetzen, wie es die Fußnote ja bereits andeutet. 
Eine Liedpredigt zu diesem Choral finden Sie zuoberst im Menü "Epiphaniaszeit".

Auch dieses Weihnachtslied Martin Luthers erschien 1524 erstmals in  Gesangbüchern, im Erfurter "Enchiridion" und in Johann Walters "Geistlichem Gesangbüchlein". Die Liedpredigt vom Heiligabend im Jubiläumsjahr 2017 (zuoberst im Menü "Weihnachten") konzentriert sich auf das abschließende Kyrieleis (statt Halleluja).

Das Adventslied „Dein König kommt in niedern Hüllen“ (EG 14, 1834) gehört anders als „Tochter Zion“ (EG 13, 1820/26) nicht zu den Ohrwürmern der Adventszeit und wird selten gesungen. Das mag an seiner politischen Friedenskönig-Christologie liegen; manches klingt ein wenig missionarisch-kolonialistisch („zieht deine Schar nach allen Orten der Welt hinaus und macht dir Bahn“), dazu eine Fülle an Bildern und Bibelzitaten ... Doch eine Strophe habe ich in dieser Adventszeit für mich entdeckt, die fünfte:

O Herr von großer Huld und Treue,

o komme du auch jetzt aufs Neue

zu uns, die wir sind schwer verstört.

Not ist es, dass du selbst hienieden

kommst, zu erneuen deinen Frieden,

dagegen sich die Welt empört.

Diese Strophe von der Verstörung und der sich empörenden Welt trifft die Großwetterlage nach meinem Eindruck sehr gut. Nun kann man im Gottesdienst normalerweise kaum eine einzelne Mittelstrophe eines Chorals singen, es sei denn: mehrfach als Singspruch / Kehrvers in einem (politischen) Fürbittengebet (statt Kyrie eleison o.ä.), abschließend vielleicht noch einmal vor oder nach dem Segen.

„Macht hoch die Tür“ feiert 400. Geburtstag: geschrieben zur Einweihung der Altroßgärter Kirche in Königsberg von Georg Weissel im Advent 1623. Dieses Jubiläum nehme ich zum Anlass, erneut der Erzählung vom Königsberger Fisch- und Getreidehändler Sturgis nachzugehen. Sie geistert im Zusammenhang mit dem Lied „Macht hoch die Tür“ seit Jahrzehnten durch Internet und Gemeindebriefe, Andachten und Predigten. Das entzaubernde Ergebnis meiner Recherche finden Sie zuoberst im Menue "Advent", schließend mit Texten von Hans Graf von Lehndorff aus seinem "Ostpreußischen Tagebuch".

Das war fast eine kleine Revolution, mindestens aber ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Reformation: 1524 erschienen die ersten Evangelischen Gesangbücher. Auf Initiative Martin Luthers wurden neue Liedern in deutscher Sprache gedichtet und in ersten Liederheften gesammelt. Mit dem Singen wurden die Gemeinden aktiv beteiligt am liturgischen Geschehen. Im Laufe dieses Kirchenjahres 2023/24 werde ich auf dieser Website Lieder aus diesen Gesangbüchern von 1524 vorstellen.

Für die Adventszeit hat Luther selber zur Feder gegriffen und den Choral „Nun komm der Heiden Heiland“ (EG 4) gedichtet, eine Übersetzung eines lateinischen Textes des Kirchenvaters Ambrosius von Mailand, ein dichter Text, dicht am lateinischen Original entlang. Zur spannenden Ursprungsgeschichte dieses Liedes finden Sie im Menü „Advent“ eine Liedpredigt.

Einst war es das evangelische Adventslied schlechthin, und für mich ist bei aller Liebe zu „Macht hoch die Tür“ der Erste Advent schwer vorstellbar, ohne dass dieser urevangelische Choral erklingt. Dankenswerterweise ist es auch in der neuen Wochenlieder-Ordnung 2017 weiterhin dem Ersten Advent zugeordnet. 

Nicht von ungefähr hat Johann Sebastian Bach gleich drei Orgelbearbeitungen dieses Chorals komponiert, meine liebste BWV 659 (https://www.youtube.com/watch?v=K2ANMpDoRow), dazu zwei Kantaten zum Ersten Advent. 

Meine jüngste Liedpredigt, gehalten am Drittletzten Sonntag im Kirchenjahr 2023. Einst war es das Beerdigungslied schlechthin, heute ist es auf unsern Friedhofen weitgehend verschwunden. Sein barocker Auferstehungsrealismus ist kaum noch zugänglich, aber der Choral hat eine revolutionäre Geschichte.

Der Toten- und Ewigkeitssonntag kennt nicht nur das "Wachet auf, ruft uns die Stimme". Ein Lied, das - so vermute ich - leider keine Aufnahme in ein zukünftiges Gesangbuch finden wird, ist der großartige Choral "Jerusalem, du hochgebaute Stadt". Seit ich es in Rudolf Mauersbergers "Dresdener Requiem" von 1945 gehört habe, liebe ich es. Man muss sich nur auf die Metapher des neuen Jerusalem einlassen, dann entfaltet es eine große Trostkraft.
Wem die Metapher fremd bleibt und demEwigkeitssontag gern einen politschen Akzent setzen möchte, der greife zum nüchternen Lied "Der Himmel, der ist" von Kurt Marti (1971/1980). Die Predigten (und zwei weitere) finden Sie im Ordner "Von Erntedank bis Ewigkeit".

Ein weiteres Reformationsjubiläum steht bevor. Es erinnert an Ereignisse des Jahres 1524, die Kirche und Gottesdienste nachhaltig verändert und geprägt haben. In diesem Jahr kamen die ersten Gesangbücher aus dem Druck und in die evangelischen Gemeinden! In Nürnberg erscheint das sogenannte „Achtliederbuch“, in Erfurt wird das Erfurter Enchiridion (Handbüchlein) gedruckt. Johann Walter veröffentlicht sein Geistliches Gesangbüchlein, das damit zum ersten Evangelischen Chorgesangbuch wurde.
Seitdem lässt man im Gottesdienst nicht nur Kantoren und Chöre singen, auf Latein, sondern Gemeinde singt selber, in der eigenen Muttersprache! Neben der Übersetzung der Bibel haben Gesangbücher von Jahrhundert zu Jahrhundert evangelische Frömmigkeit nachhaltig geprägt. Ab dem 1. Advent werde ich auf dieser Seite laufend auf dieses Jubiläum eingehen.
Schon heute sei hingewiesen auf eine anregende Website des Verbandes Evangelische Kirchenmusik in Württemberg: https://www.kirchenmusik-wuerttemberg.de/service/500-jahre-ev-gesangbuch, verlinkt "gleich nebenan".