© Christian Scholl

Mit Liedern predigen

Meine Liedpredigt-Geschichte: Vom Abi bis zum Ruhestand

Wie es zu meiner Lust an Liedpredigten kam? Wenn ich meinen Erinnerungen nachsinne, stoße ich darauf, dass mein Interesse an Chorälen bis in Kinder- und Jugendjahre zurückreicht. Aufgewachsen in einem kirchennahen Elternhaus, habe ich vor Augen und im Ohr, wie meine Mutter bei der Hausarbeit, beim Kochen oder Bügeln nicht nur Operettenmelodien und Schlager vor sich hin sang, sondern auch Choräle. Ihre Favoriten: Paul-Gerhardt-Lieder wie „Geh aus, mein Herz“ und „Befiehl du deine Wege“, oder auch „Wer nur den lieben Gott lässt walten“.

Mein eigenes Interesse am evangelischen Choral erwachte in Jugendjahren. Sicher, ich hörte wie viele meines Alters in den 1970er Jahren auch Mainstream (von Beatles bis Scorpions und T-Rex), dazu allerhand Folk (Simon & Garfunkel, Bob Dylan, Donovan, Hannes Wader, Reinhard Mey, Liederjan etc.). In den Jugendgruppen des CVJM Lüneburg sangen wir aus den „Songs junger Christen“. Aber, untypisch in meiner Peergroup: Schon Mitte der 1970er Jahre las ich das erste Lebensbild Paul Gerhardts von Jörg Erb. Kurz darauf erwarb ich seine anderen beiden Bände über „Dichter und Sänger des Kirchenliedes“ (1970). Heute ahne ich, was mich an diesen Liedermachern anzog: Deren scheinbar ungebrochene Frömmigkeit waren mir eine Stütze in meinen pubertären Glaubenskrisen. Sie ließen mich spüren, dass ich umgeben war von einer „Wolke der Zeugen“, Menschen wie Paul Gerhardt, die im Dreißigjährigen Krieg ganz andere, viel schwerere Krisen zu bewältigen hatten.

Mein Deutschlehrer am Johanneum Lüneburg war überrascht, als ich ihm für die mündliche Abiturprüfung 1977 als Thema „Paul Gerhardt“ vorschlug. Barocklyrik statt Büchner, Borchert oder Böll? Weil ihm Thema undTextkorpus zu klein erschienen, einigten wir uns auf eine Erweiterung: Paul Gerhardt und die Lyrik der Barockzeit. Ich las also fortan Gryphius-Sonette, lernte Versmaße wie Jambus und Trochäus zu unterscheiden, männliche und weibliche Reime, die Regeln barocker Poetik von Opitz und Buchner, Alliterationen und andere Lautmalereien. Schwerpunkt aber blieb Paul Gerhardt. Im Frühjahr vor der Prüfung meditierte ich regelmäßig seine Lieder im Gesangbuch und notierte am Seitenrand die Daten meiner Lektüre.

Während des Theologiestudiums erlahmte mein Interesse. Die Begeisterung für das Neue Testament und seine Umwelt ließ keinen Raum für Nebendisziplinen wie Hymnologie. Weder in Tübingen noch in Göttingen habe ich hymnologische Vorlesungen, Seminare oder Übung besucht, obwohl ich in Tübingen mit Martin Rößler einen ausgewiesenen Fachmann dieser Disziplin hätte kennenlernen können. Er hat mit seiner Dissertation „Die Liedpredigt. Geschichte einer Predigtgattung“ (1970, gedruckt 1976) den Anstoß gegeben für die Wiederentdeckung dieser „vergessenen, einst nicht unwichtigen Predigtgattung“. „Vielleicht wird man über alte Lieder erst wieder predigen können, wenn man über gegenwärtige geistliche Lyrik zu reden vermag.“ So lautete sein Resümee, doch seine Arbeit fand unerwartet schnell Beachtung. Schon wenige Jahre später erschienen erste Predigtbände, und auch in Göttingen, wo ich inzwischen studierte, war die Predigtgattung angekommen. Im Advent 1981 (oder war es erst 1982?) hörte ich in St. Johannis meine erste, gehalten vom musikalisch begabten Superintendenten Paul Gerhard Fritz über „Macht hoch die Tür“. Im gleichen Jahr erstand ich in der Buchhandlung Deuerlich eine neue Paul-Gerhardt-Biographie von Gerhard Rödding (1981).

Als ich 1984 Vikar an St. Albani in Göttingen wurde, habe ich die erstbeste Gelegenheit wahrgenommen, selber eine Liedpredigt zu halten. Die Wahl fiel am Dritten Advent 1984 auf das Lied „Es kommt ein Schiff geladen“. Das Wochenlied „Mit Ernst, o Menschenkinder“ erschien mir damals wohl zu spröde. Außerdem reizte mich die ungewöhnliche Schiffsmetaphorik, denn Symboldidaktik war gerade angesagt. Da im EKG nur die kryptische Angabe „nach Johannes Tauler (1300-1361) von Daniel Sudermann 1626“ stand, suchte und fand ich detaillierte Informationen im „Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie“ über Entstehung und Autoren und verpackte die Fakten in eine phantasievolle Traumreise nach Straßburg mit zwei Zeitebenen (Tauler und Sudermann). Narratives Predigen war damals en vogue. 

Seitdem habe ich in den Gemeinden, in denen ich tätig war, in St. Petri Cuxhaven (1986-1992), in St. Michaelis Diepholz (1992-2006) und zuletzt in St. Jacobi Göttingen (2006-2021), immer wieder mit Liedern gepredigt und einzelne Predigten und Beiträge veröffentlicht. Die Formen sowie  die Präferenzen im Liedgut haben sich gewandelt. Noch immer habe ich Lust zu erzählen und hinter altertümlich anmutenden Texten die Grunderfahrungen der Menschen damals sichtbar zu machen, denn die sind den heutigem oft gar nicht so fremd. Doch neben narrativen Moves stehen in den letzten Jahren auch diskursive Elemente. Erzählen, Reflektieren und Meditieren fördern gemeinsam das Singen „mit Herz und Mund“ und Hirn.

Zusehends habe ich alte Choräle ins Gespräch zu bringen versucht mit moderner Lyrik und Prosa, mit Zeitungsmeldungen (vorzugsweise aus der ZEIT), Alltagsminiaturen o.ä. Je länger je mehr habe ich mich getraut, Inhalte einzelner Strophen infrage zu stellen, was ich in früheren Jahren zu vermeiden versucht habe. In den letzten Jahren habe ich vermehrt neuere und unbekannte Lieder aufgegriffen, um sie in den Gebrauch der Gemeinde einzuführen.

Im Laufe der Jahre hat sich der Bücherregalboden "Hymnologie" gefüllt. Neben  einschlägigen Handbüchern ist die Paul-Gerhardt-Literatur nach wie vor reichlich vertreten, dazu andere Biographien und einige Liedpredigtbände. Martin Rößlers Standardwerk „Liedermacher im Gesangbuch“ (1990/91) gab noch einmal einen kräftigen Impuls. Weit über 100 Liedpredigten habe ich im Laufe der Jahre gehalten, mal über das jeweilige Wochenlied, besonders gerne in der Advents- und in der Passionszeit und zu den hohen Festen, mal zu einem Dichterjubiläum (z.B. 2007 Paul Gerhardt, 2015 Christian Fürchtegott Gellert), oder auch einfach so, aus der Verlegenheit, wenn ich zu einem in der Perikopenordnung vorgeschlagenen Predigttext keinen Zugang fand und nach Alternativen suchte. Manchmal setzte auch die Veröffentlichung des nächsten Heftes der „Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch“ einen Impuls.

Ob sich für mich als Pastor im Ruhestand weitere Gelegenheiten ergeben werden, mit Liedern zu predigen? Ein Lied habe ich schon fest im Blick: „Jesus, meine Zuversicht“ (EG 526). Noch warte ich auf eine passende Gelegenheit.

Verstehst du auch, was du singst?“ – Zur Bedeutung von Liedpredigten im Gottesdienst

I. Historische Einordnungen

„Vielleicht wird man über alte Lieder erst wieder predigen können, wenn man über gegenwärtige geistliche Lyrik zu reden vermag“ – so beklagte der Tübinger Theologe und Kirchenmusiker Martin Rößler in seiner 1970 eingereichten und 1976 veröffentlichten Dissertation über die Geschichte der Liedpredigt deren Verschwinden in der Predigtpraxis des 20. Jahrhunderts. Doch anders als vermutet musste Rößler nicht lange auf deren Renaissance warten. Hier und da entdeckten hymnologisch interessierte Pastorinnen und Musiker unter dem Eindruck von Rößlers Dissertation den Reiz dieser alten lutherischen Predigtgattung. Schon wenige Jahre später erschienen erste Sammlungen. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Produktion im Paul-Gerhardt-Jahr 2007, dass diese Predigtform einer breiteren kirchlichen Öffentlichkeit bekannt machte. Seit einigen Monaten wird das Interesse an den Wochenliedern auch im Internet geweckt mit einem eigenen Podcast: https://wochenliederpodcast.podigee.io 

Rößlers Prognose, dass die Entdeckung gegenwärtiger Lyrik die Liedpredigt zum Leben erwecken könnte, trifft mit Einschränkungen insofern zu, als deren Renaissance in die Zeit einer Wende zur Ästhetik fiel. Spuren dieser „ästhetischen Wende“ sind im Rückblick auf gesellschaftliche, kulturelle und kirchliche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in vielen Lebensbereichen und -äußerungen zu erkennen: die Wiederentdeckung des tot gesagten Kinos, Museums- und Kunstausstellungen, die zum öffentlichen Event und Publikumsmagnet werden, die neue Lust am Historischen auf dem Büchermarkt und im Film, die mit Umberto Ecos „Der Name der Rose“ ihren Anfang nahm, die Beachtung, die biographische Gedenkjahre bedeutender Persönlichkeiten in den Medien finden. Anspruchsvolle Romane dürfen wieder unterhaltsam erzählen und selbst Gegenwartslyrik von Rose Ausländer bis Robert Gernhardt findet Leserinnen und Leser.

Auch Theologie und Kirche, insbesondere Homiletik und Predigtpraxis haben sich von dieser „ästhetischen Wende“ inspirieren lassen, beginnend mit Gerhard Marcel Martins Aufsatz „Die Predigt als offenes Kunstwerk“ bis zu Martin Nicols und Alexander Deegs Konzept einer „Dramaturgischen Homiletik“. Von diesen Impulsen profitierte auch die Wiederentdeckung der Liedpredigt.

II. Potentiale der Liedpredigt

Nach 30 Jahren eigener Praxis komme ich bis heute aus unterschiedlichen Anlässen im Laufe eines Jahres auf diese Predigtform zurück, sei es, weil sich mir ein Text der Perikopenordnung zu einem bestimmten Anlass nicht erschließt und ich nach Alternativen suche, sei es, dass ich ein altes Lied für mich entdeckt habe und eine Gelegenheit suche, diese Entdeckung in einem Gottesdienst aufzugreifen. Insbesondere in den Festzeiten des Kirchenjahres regen populäre Weihnachtslieder („Vom Himmel hoch“) oder theologisch sperrige Passionslieder („O Haupt voll Blut und Wunden“) zu Liedpredigten an.

Die Predigtgestalt hat sich im Laufe dreier Jahrzehnte weiterentwickelt, weg von rein narrativen Formen („Erzählend predigen“) zu patchworkartig montierten Impressionen zu Text und Melodie, zum Leben des Dichters, zur Rezeptionsgeschichte, verbunden mit eigenen Alltagsminiaturen, Presseartikeln, zeitgenössischer Lyrik, verbunden durch Orgelmusik oder Choralgesang (eine frühzeitige Absprache mit dem Kirchenmusiker ist nicht nur hilfreich, sondern auch anregend). Im Folgenden einige Thesen zu Sinn und Chancen der Liedpredigt.

1.      Christliche Predigt ist ihrem Wesen nach Schriftauslegung und unterscheidet sich von anderen Formen kirchlicher und weltlicher Rede durch ihren Bezug auf biblische Texte. Liedpredigt provoziert daher die kritische Frage, ob denn ein Choral an deren Stelle treten darf. Dieser Einwand verkennt, dass auch die Liedpredigt den Schriftbezug christlicher Predigt bewahrt, weil die Choraltexte ihrerseits Schriftauslegung sind. Das Lied als Predigtgegenstand verdrängt nicht den Schriftbezug, sondern ist ein Stück Schriftauslegungsgeschichte. Es ist Aufgabe der Liedpredigt, dies in den Schriftlesungen des Gottesdienstes anklingen zu lassen und in der Predigt erkennbar zu machen.

2.      Liedpredigten entsprechen Augustinus‘ Postulat, dass Predigten lehren, erfreuen und bewegen („docere“, delectare“, „movere“) sollen, in eigener Weise:

2.1  Sie erläutern die Dichtung und sorgen für Verstehen dessen, was die Gemeinde singt („docere“). Die „verstaubte“ Sprache alter Choräle wird entstaubt. In Anlehnung an die Begegnung des Philippus mit dem Kämmerer aus Äthiopien, der im Buch des Propheten Jesaja liest (Apg 8), kann man sagen: Liedpredigten gehen aus von der Frage „Verstehst du auch, was du singst?“ und erwarten, dass manche wie der Kämmerer darauf antworten: „Wie sollte ich, wenn es mir niemand erklärt.“

2.2  Durch die Einbeziehung von Instrumentalmusik (in der Regel Orgelbearbeitungen oder -improvisationen des Chorals) und Gemeindegesang bekommt die Predigt eine Gestalt, die über das gesprochene Wort hinausgeht und erfreut („delectare“). Die monologische Rede wird musikalisch gebrochen und die Predigt bei gleicher Länge kurzweiliger.

2.3  Durch die Einbindung von Lebensbildern der Dichterinnen und Dichter werden ursprüngliche Lebensbezüge eines Textes und gelebter Glaube einschließlich seiner ethischen Dimension sichtbar („movere“). Gefördert durch die gebundene Sprachform (Versmaß und Reim) klingen die in der Predigt bedachten Choräle im Alltag nach und prägen sich dem Gedächtnis ein.

3.      Liedpredigten sind nicht Predigten über, sondern mit einem Lied. Sie durchbrechen die monologische Rede und ermöglichen Partizipation der Gemeinde am Predigtgeschehen. Das gemeinsame Singen des Chorals ist nicht nur Antwort der Gemeinde auf das Wort, sondern Teil der Predigt selbst. Die Singenden werden zu Mitpredigerinnen und -predigern.

4.      Liedpredigten mit Chorälen des 16. bis 20. Jahrhunderts schlagen Brücken über den „garstigen Graben“ der Geschichte, der die Gegenwart von der Entstehungszeit biblischer Predigttexte trennt. Der Graben ist nicht ganz so breit wie zu den antiken Texten des Alten und Neuen Testaments. Wo Biographien der Liederdichterinnen und -dichter sowie die Entstehungsgeschichten einzelner Lieder durch anachronistisch-aktualisierende Andeutungen für heutige Lebenssituationen transparent werden, können sich Predigthörerinnen und -hörer Identifikationen erschließen.

5.      Liedpredigten verringern das unverbundene Nebeneinander von Liturgie und Predigt. Sie integrieren mit dem Musizieren und Singen des Chorals ein Element des liturgischen Geschehens und umgekehrt: Das Singen des Chorals als liturgischer Akt verbindet sich mit Elementen der Predigt. Die Liedpredigt strahlt aus in die Gesamtgestalt des Gottesdienstes und bestimmt die Auswahl von Lesungen und die Gestaltung von Gebeten.
 
6.      Die Predigt mit einem Lied, unterbrochen durch das Singen des Chorals, bietet durch die Strophenfolge einen roten Faden. In diese Struktur hinein können gesprochene Sequenzen unverbunden nebeneinander gestellt werden. In der Terminologie der „Dramaturgischen Homiletik“ gesprochen: „moves and structure“ ergeben sich fast von selbst. Das Singen einzelner (oder bei langen Liedern auch mehrerer) Strophen oder Instrumentalbearbeitungen sorgt für Schnitte zwischen den Wortsequenzen, ermöglicht Entspannung des Zuhörens und Wechsel und Vielfalt kognitiver und emotionaler Redeformen.

Harald Storz, Verstehst du auch, was du singst?“ – Zur Bedeutung von Liedpredigten im Gottesdienst (leicht überarbeitet), in: Reinke, Stephan (Hg.), Werkbuch Musik im Gottesdienst, Gütersloh 2014, S. 224-227.